Das deutsche Rentensystem – eine kurze Betrachtung

Published 22/06/2023

Written by : Olivier MAY, CPA (Certified Public Accountant)

Olivier MAY, CPA

1.) Geschichte des deutschen Rentensystems

Die Grundsäule des deutschen Rentensystems ist die gesetzliche Rentenversicherung, kurz GRV. In ihr sind grundsätzlich – mit einigen Ausnahmen wie angestellte Mitglieder von Kammerberufen – alle Arbeitnehmer und weitere Personengruppen pflichtversichert und andere können freiwillig in sie einzahlen.

  • Im 19. Jahrhundert führte die Industrialisierung dazu, dass Millionen von Menschen unter teils schwierigen gesundheitlichen Bedingungen in Fabriken arbeiteten und von ihren Arbeitgebern abhängig waren. Eine Garantie für soziale Absicherung gab es nicht.
  • Der damalige Reichskanzler Otto von Bismarck sah darin eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden und legte 1889 mit dem„Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung“ den Grundstein für die moderne Rentenversicherung.
  • Die Leistungen waren damals geringer als heute: Das Renteneintrittsalter betrug 70 Jahre mit mindestens 30 Beitragsjahren und wer im Berufsleben zwischen 550 und 850 Mark pro Jahr verdiente, bekam als Altersrente weniger als ein Drittel davon.
  • Nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 wurden die Rentensysteme in Ost- und Westdeutschland separat voneinander neu aufgebaut und reformiert. Einige Faktoren von früher wurden übernommen, andere kamen neu hinzu.
  • Erst mit der Wiedervereinigung entstand wieder ein einheitliches System, das seitdem aber mehrfach reformiert wurde.

2.) Das Umlageverfahren

Das heutige Rentensystem in Deutschland funktioniert nach dem sogenannten Umlageverfahren. Dabei zahlt die Rentenversicherung die aktuell von den Erwerbstätigen erhobenen Beiträge direkt als Renten an die Rentner aus. Im Gegenzug erhalten die Beitragszahler Rentenansprüche für das Alter, die dann wieder die aktuell arbeitenden Versicherten bezahlen sollen.

Dieses System gerät aber unter Druck, wenn die Zahl der Rentner zunimmt, während gleichzeitig die Menge der Beitragszahler sinkt – was in Deutschland aufgrund des demografischen Wandels der Fall ist.

Grundsätzlich können alle Bürger freiwillig in der GRV für das eigene Alter vorsorgen. Aber nur bestimmte Berufsgruppen sind gesetzlich dazu verpflichtet:

  • Alle angestellten Arbeitnehmer sind grundsätzlich in der GRV pflichtversichert – mit Ausnahme angestellter Mitglieder von Kammerberufen. Das ist bei weitem die größte Gruppe, etwa 70 Prozent, aller Erwerbstätigen.
  • Für Selbstständige besteht in der Regel keine gesetzliche Pflicht zur Rentenversicherung, es gibt aber Ausnahmen, pflichtversichert sind zum Beispiel Lehrer oder Gewerbetreibende, sofern sie keine Angestellten haben.
  • Beamte haben eine Sonderstellung und müssen nicht in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Sie erhalten im Alter eine Pension vom Staat, bei dem sie verbeamtet sind.
  • GRV-Versicherte, die keine Beiträge einzahlen, weil sie aktuell nicht für ein Gehalt arbeiten, bekommen unter Umständen trotzdem bestimmte Zeiträume anerkannt. Dies gilt zum Beispiel für die Kindererziehung, die Schulausbildung ab dem 16. Lebensjahr und das Studium.
  • Die monatliche Beitragshöhe zur GRV betrug im Jahr 2023 18,6 Prozent des Bruttogehalts, wobei Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils die Hälfte davon tragen. Allerdings gibt es eine Obergrenze, bis zu welcher der Prozentsatz angewendet wird. Diese sogenannte Beitragsbemessungsgrenze hat die Bundesregierung für das Jahr 2023 auf 7.300 Euro pro Monat in Westdeutschland und 7.100 Euro in Ostdeutschland festgelegt.

3.) Die wichtigsten Faktoren für die Höhe der Altersrente

Die Rente im Alter ist die klassische Leistung der GRV. Wer wissen will, wie hoch diese ausfällt und ab wann sie aufs Konto überwiesen wird, sollte folgende Punkte beachten:

  • Weil die Menschen in Deutschland länger leben, beträgt das reguläre Renteneintrittsalter inzwischen 67 Jahre, vor 2012 waren es 65 Jahre. Auch ein vorzeitiger Renteneintritt ab 63 Jahren ist möglich, dann allerdings mit Abschlägen von 0,3 Prozent für jeden vorzeitigen Monat.
  • Die Höhe der Altersrente ergibt sich aus einer komplizierten Formel, die unter anderem den jährlichen Verdienst im Vergleich zum Durchschnittsverdienst aller Versicherten berücksichtigt. Zudem spielen die Zahl der Beitragsjahre und anrechenbare Zeiten wie für Kindererziehung oder Ausbildung eine Rolle.
  • Für jede Person ergibt sich eine individuelle Zahl an sogenannten Entgeltpunkten, die mit dem aktuell gültigen Rentenwert in Euro multipliziert wird. Im Jahr 2022 betrug der Rentenwert-West 36,02 Euro und Ost 35,52 Euro. Die durchschnittliche Altersrente aus der GRV betrug in 2022 1.152,- €

4.) Künftige Entwicklung:

In Frankreich protestieren die Menschen gegen die Rentenreform, in Deutschland bewegt das Thema kaum jemanden. Dabei steht das System Altersversorgung auch hier, wie viele Experten meinen, auf der Kippe. Meines Erachtens steht die GRV nicht auf der Kippe, Sie ist, wie unten gezeigt wird, in Ihrer jetzigen Form gescheitert.

  • Seit 2020 gehen die Geburtenstarken Nachkriegsgenerationen „Babyboomer“ in Rente. In der Folge wird das Rentenniveau voraussichtlich von den heutigen 48% des Nettogehaltes auf voraussichtlich 41% des Nettogehaltes in 2050 sinken, während sich zugleich der Rentenbeitrag von 18,6% auf 24,4 % des Bruttoeinkommens erhöht. Das kann man als dramatische Entwicklung verstehen. (Quelle: Hans Böckler Stiftung: Study Nr. 345 Januar 2017: Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung)
  • In der Vergangenheit gab es bereits Klagen von Privatpersonen, die darauf abzielten, dass die GRV eine Enteignung sei. So hat bspw. ein evangelischer Pfarrer geklagt und vorgerechnet, dass, wenn er seine Rentenbeiträge für sich selbst bei einer minimalen Verzinsung von 2% anlegt, er eine doppelt so hohe Rente erzielt hätte, als er aus der GRV erhält. Legt man die nun prognostizierten Daten für 2050 zugrunde, muss man zu dem Schluss kommen, dass hier faktisch eine Enteignung vorliegt und die GRV gegen Artikel 14 des deutschen Grundgesetzes, die sogenannte Eigentumsgarantie („Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt“) verstößt und damit verfassungswidrig ist. Jungen angestellten Arbeitnehmern wird durch den Zwang in die GRV einzahlen zu müssen, die Möglichkeit genommen, für Ihr Alter vorzusorgen und Sie werden dafür eine Rente erhalten, von der Sie nicht einmal ansatzweise werden leben können.
  • Die einzige kurzfristig praktikable Maßnahme, um die oben beschriebene Entwicklung abzufedern ist eine Vergrößerung der Basis der Beitragsleistenden. Die Privilegien der Beamten, Selbstständigen und der Angehörigen der Kammerberufe (Ärzte, Wirtschaftsprüfer, Notare etc.) müssen wegfallen, diese Personengruppen müssen zur Beitragsleistung in die GRV verpflichtet werden. Alternativ ist nur eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters denkbar, aber wer möchte sich schon einen 70-jährigen Dachdecker vorstellen.
  • Zusätzlich muss die sogenannte Nachhaltigkeitsreserve der Rentenversicherung abgeschmolzen werden. Die gesetzlichen Rentenversicherungsträger müssen per Gesetz eine Nachhaltigkeitsreserve vorhalten. Sie diente ursprünglich dazu, Einnahmenschwankungen im Jahresverlauf zu glätten und so kurzfristige Beitragssatzanpassungen zu verhindern. Die Nachhaltigkeitsrücklage lag Ende 2020 mit rund 37,1 Milliarden Euro – dies entspricht 1,57 Monatsausgaben – auf einem relativ hohen Niveau (2019 € 40,5 Mrd., 1,8 Monatsausgaben), was maßgeblich auf den konstant gehaltenen Beitragssatz und die Arbeitsmarktentwicklung der vergangenen Jahre zurückzuführen ist. Damit wird die gesetzlich festgelegte Obergrenze von 1,5 Monatsausgaben bei der Nachhaltigkeitsrücklage auch in diesem Jahr leicht überschritten. Laut Mitteilung der GRV wird die Nachhaltigkeitsrücklage der Rentenversicherung in den kommenden Jahren planmäßig abgebaut.
  • Es steht allerdings sehr zu bezweifeln, ob diese Maßnahmen hinreichend sind, um die GRV in einen stabilen Zustand zu überführen, bei dem Renten ausgezahlt werden können, die den Namen Rente zurecht tragen.
  • Da die staatliche Rente schon bald keine ausreichende Altersversorgung mehr sicherstellen kann, befürchten Experten zudem einen sogenannten „Asset Meltdown“: Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in Rente und finanzieren einen Teil ihres Alterskonsums durch die Veräußerung Ihrer Vermögenswerte, was zu starken Turbolenzen auf den Kapitalmärkten führen kann.

5.) Systemvergleich: Deutschland-Luxembur

  • Das gesetzliche Rentenalter in Luxemburg beträgt 65 Jahre, in Deutschland beträgt, es, wie beschrieben, 67 Jahre.
  • Ein vorzeitiger Renteneintritt kann in Luxemburg schon mit 57 Jahren beantragt werden vorausgesetzt man hat eine Anwartschaft von mindestens 480 Monaten, also volle 40 Jahre. Erfüllt man diese Voraussetzung wird keine Rentenkürzung vorgenommen. In Deutschland ist ein vorzeitiger Renteneintritt erst mit 63 möglich, wobei für jeden vorzeitig eingetretenen Monat eine Kürzung von 0,3 Prozentpunkten pro Monat vorgenommen wird. (Quelle: Deutsche Rentenversicherung: Internetauftritt)
  • In Deutschland wird jedem Versicherten turnusmäßig jedes Jahr die voraussichtliche zu erwartende Rente mitgeteilt. In Luxemburg kann man erst ab einem Alter von 55 Jahren auf Antrag bei der zuständigen Organisation, der CNAP, eine Schätzung der voraussichtlichen Rente beantragen.
  • Die monatliche Mindestrente für 40 Versicherungsjahre beträgt in Luxemburg zurzeit € 1.985,56. In Deutschland gibt es keine staatliche Mindestrente, hier stockt der Staat nur auf, wenn die Rente unter das Sozialhilfeniveau fällt und stockt die Rente dann auf Sozialhilfe-Niveau auf. In dieser misslichen Lage werden sich, wie oben beschrieben, immer mehr Rentner wiederfinden. Man kann diese entwürdigende Lage sehr bildlich wahrnehmen: Als ich im Jahr 2000 Deutschland verließ, gab es noch keine Rentner, die Abfalleimer nach Pfandflaschen durchsuchten, um so ihre Rente aufzubessern. Heute sieht man sie an jeder Ecke. Ich sprach vor einigen Wochen im Bus mit einer älteren Dame, sie berichtete, sie habe 40 Jahre lang in der Kurverwaltung in Grömitz gearbeitet, ihre Rente reiche nur für ihre Miete und sie müsse jede Woche mehrmals zur Tafel, einer Organisation, die Bedürftigen kostenlos Nahrungsmittel zur Verfügung stellt, um sich ernähren zu können. Es ärgert mich sehr, dass ein reiches Land wie Deutschland jemanden, der 40 Jahre gearbeitet hat, in so eine entwürdigende Lage bringt. Die Zukunft der Rente in Deutschland wird sich allerdings noch deutlich verschlechtern, obwohl man sich das gar nicht vorzustellen vermag.
  • Die durchschnittliche Rente betrug im Jahr 2019 in Luxemburg € 3.862,-, in Deutschland, wie bereits erwähnt, € 1.152,-, womit sich ein weiterer Systemvergleich erübrigt. Wie erwähnt ist die jetzige Form der GRV in Deutschland meines Erachtens verfassungswidrig.

6.) Schlussfolgerung:

  • Legt man die für 2050 prognostizierten Parameter zugrunde und geht man davon aus, dass ein pflichtversicherter Arbeitnehmer von diesem Zeitpunkt an 40 Jahre lang Rentenbeiträge in Höhe von 24,4% des Bruttolohns (in der Berechnung wurde aus Vereinfachungsgründen von einem konstanten Bruttolohn von € 3.000,- und einem konstanten Nettolohn von € 2.200, – pro Monat ausgegangen) einzahlt, und danach 20 Jahre lang eine Rente von 41% des Nettolohns erhält, geht man weiterhin von einer Inflationsrate von nur 2% aus (alle diese Annahmen sind sehr konservativ), dann erhält dieser Arbeitnehmer lediglich 26,03% seiner geleisteten Einzahlungen bis zu seinem Tode als Rente zurück. Das ist ganz klar eine Enteignung. In einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Vermögenssteuer aus dem Jahre 1995 wurde festgelegt, dass die Gesamtsteuerlast höchstens „in der Nähe der hälftigen Teilung“ zwischen Staat und Bürger sein dürfe, um Artikel 14 Grundgesetz gerecht zu werden. Inzwischen wurde dieser sogenannte Halbteilungsgrundsatz in anderen Entscheidungen zwar etwas aufgeweicht, dient aber immer noch, in Bezug auf Artikel 14 Grundgesetz, als Richtschnur. Diese Überlegung lässt sich analog auf die hier geführte Rentendiskussion übertragen.
  • Ein Staat, der mit seiner verpflichtenden gesetzlichen Rentenversicherung massiv gegen die eigene Verfassung (Art. 14 Grundgesetz s.o.) verstößt und die Mehrzahl seiner Rentner in bitterer Armut zurücklassen wird, kann sich wohl kaum mehr Rechtsstaat nennen.
  • Es erstaunt sehr, dass sich in der Bevölkerung zwar Anzeichen von Unmut feststellen lassen, aber keinerlei Anzeichen von Widerstand. Wie erwähnt, scheint das Thema in Deutschland kaum jemanden zu bewegen.

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